Aktuelles Das geistliche Wort

Aktion „24 Wege durch den Advent“

Wie man‘s sieht

Inmitten einer sanften, schneebedeckten Hügellandschaft, deren Ausläufer sich gen Süden am Horizont verlieren und gen Norden an einen hohen, duftenden Nadelwald grenzen liegt ein kleiner See. Er ist in tiefer Stille und Ruhe darauf bedacht die hauchdünne Eisschicht, die ihm der Winter schenkte, nicht zu zerbrechen. Unmittelbar an seinem Ufer steht ein einzelner, kahler Apfelbaum, dessen Zweige sich mit feinen Schneehauben schmücken. Sein dünneres, gleichwohl formschönes Geäst zeugt davon, dass er nicht mehr als fünf oder sechs Sommer am See erlebt hat. Anders die knorrige Holzbank, deren unzählige Schnitzereien davon erzählen, wie viele Gäste den Blick auf See, Horizont und das Bäumchen genossen haben. Ähnlich knorrig wie die Bank, erscheint auch der Alte, der auf ihr Platz genommen hat, die Stirn in Falten gelegt.

Der andere hingegen, neben ihm, ähnlich alt, ist aufrechter Statur und klaren Blickes. Und können die beiden unterschiedlicher kaum sein, beobachten sie doch dasselbe Schauspiel, als ein kleiner Vogel Kurs auf das Bäumchen nimmt. Vielleicht eine Blaumeise. Vielleicht auch nicht. Recht abrupt endet der Flug auf dem dünnsten und längsten Zweig, der sich nun – vom Gewicht des Besuchers überrascht – gefährlich nah dem Wasser neigt. „Wenn ich ein Vogel wäre, würde ich mir nicht den dünnsten Ast aussuchen“, brummt der eine der Alten, „eher einen dickeren, der nicht derart ins Wanken gerät, das wäre mir sicherer“, setzt er nach. „Und wenn ich ein Vogel wäre, würde ich nicht dem Ast, sondern in die Kraft meiner Flügel vertrauen“, weiß der Andere und erfreut sich am sorglosen Schaukeln des Vögelchens. „Wie heißen Sie?“ erkundigt er sich dann. „Ich bin der Zweifel und Sie?“ „Ich? Ich bin das Selbstvertrauen.“ Und kurz darauf, bevor der Ast ins Wasser reicht, so als sei das Vögelchen seiner Schaukel überdrüssig, hebt es zum Flug ab und fliegt davon. Das Selbstvertrauen schmunzelt, erhebt sich, klopft dem Zweifel leicht auf die Schulter und verschwindet geruhsamen Schrittes in den Nadelwald.

Geschrieben von Christiane Eichhorn